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Der deutsche Mittelstand und die Cloud: Evolution statt Revolution

Vor über 20 Jahren wurde die Cloud von einem damals unbekannten US-amerikanischen Software-Start-up als PR-Stunt ins Leben befördert. Damals sorgte die sogenannte „No Software“-Kampagne bei den marktführenden Anbietern für Aufruhr. Es ging jedoch nicht um die Abschaffung von Software, sondern um eine neue Art und Weise, wie sie den Kunden erreicht – also um die Provisionierung eben solcher. Das war neu – vor über 20 Jahren.

Heutzutage ist die Cloud in der digitalen Wirtschaft längst nicht mehr weg zu denken. Die Provisionierung von Unternehmenssoftware über die Cloud bietet viele überzeugende Argumente, darunter Kostenvorteile, mehr Flexibilität sowie Skalierbarkeit durch Hyperscaler. Die wirtschaftlichen Gründe sprechen demnach für ERP-Anwendungen aus der Cloud. Doch mittelständische Unternehmen zögern derzeit noch, ihre Kernsysteme in die Hände eines IT-Partners zu legen, denn das ist ein Schritt, der gut überlegt sein will – strategisch und technisch.

Kernanwendungen im Fokus

Die Cloud ist vor allem ein Mittel zum Zweck, um Software effizient bereitzustellen. Allerdings ist sie kein Allheilmittel für die Herausforderungen einer wettbewerbsorientierten und globalen Wirtschaft. Die Kernanwendungen und die damit verbundenen Funktionalitäten sowie Dienste, die über die Cloud bereitgestellt werden, stehen im Mittelpunkt. Ob ein ERP-System die vielschichtigen Anforderungen der Kunden im Hinblick auf echten Geschäftsnutzen erfüllt, ist die entscheidende Frage. Demnach sollte der Fokus darauf liegen, was Kunden bereitgestellt wird und nicht wie. Wenn das hinreichend evaluiert ist, erhält das Provisionierungsmodell des ERP-Systems ab einem bestimmten Punkt im Entscheidungsprozess die berechtigte Aufmerksamkeit.

Status Quo der mittelständischen Fertigung

Wie intensiv Unternehmen ihr ERP-System in Richtung Cloud lenken wollen, hängt stark vom jeweiligen Standardisierungsgrad ab. So ist beispielsweise der Automotive-Sektor stark standardisiert. Daher wird diese auch eine der ersten Branchen sein, die mit ERP in die Cloud gehen werden. Auf der anderen Seite legen mittelständische Unternehmen in Deutschland noch immer viel Wert auf ihre individuelle Prozesslandschaft, was zum Teil einen Wettbewerbsvorteil darstellt, aber in puncto Cloud auch Probleme mit sich bringt.

Hybrid-Strategie für größtmöglichen Nutzen

Die Mehrheit mittelständischer Fertigungsunternehmen setzt im ERP-Umfeld immer noch auf On-Premise. Jedoch sind hybride Implementierungen zunehmend auf dem Vormarsch. In der Fertigung sind reine Cloud-Lösungen derzeit noch die Ausnahme. Das liegt vor allem daran, dass ERP-Systeme unternehmenskritisch sind und daher nicht zu den ersten Systemen gehören, die in die Cloud transferiert werden. Jeder Kunde hat technisch wie wirtschaftlich sehr individuelle Erwartungshaltungen an die Cloud – die Ansprüche an die Applikationen spiegeln daher die Ansprüche an die Prozesse wider. Zum Beispiel: je näher eine Applikation an den Kernprozessen eines Unternehmens liegt, desto sensibler ist es, diese in der Cloud zu betreiben. Insbesondere bei komplexen Modulen wie etwa Materialwirtschaft, Produktionsteuerung und Logistik ist die Zurückhaltung von Unternehmen hinsichtlich der Verschiebung in die Cloud sichtbar und daher nach wie vor als On-Premise implementiert. Doch je weiter eine Anwendung von den Kernprozessen entfernt ist, desto einfacher lässt sich diese als Multi-Tenancy-Architektur umsetzen. So sind Lösungen im Bereich E-Procurement bereits fast ausschließlich in der Cloud abgebildet. Generell verspricht eine hybride Strategie mittelfristig den größten Nutzen.

Individualität als Herausforderung

Eine weitere Hürde auf dem Weg in die Cloud ist ein dem produzierenden Mittelstand immanentes psychologisches Profil: mittelständische Fertigungsunternehmen sind sehr stolz auf ihre Individualität – auch bei den Fertigungsprozessen. Daher wird von ERP-Anbietern erwartet, sich an die bestehende Prozesslandschaft der Kunden anzupassen, sprich: die Standardinstallation wird sehr häufig stark modifiziert. Die Cloud verlangt jedoch genau das Gegenteil – ohne eine Harmonisierung der Prozesslandschaft über Branchen-Templates und Best-Practices lassen sich die Vorteile der Cloud nicht ausschöpfen. Daher ist hier ein grundlegendes Umdenken der Unternehmen erforderlich. Denn es geht letztlich um einen disruptiven Wandel in der Erwartungshaltung hin zur Bereitschaft, die eigenen Fertigungsprozesse in konfigurierbare und industriespezifische Vorlagen einzupassen. Nur so kann das volle Potenzial der Cloud genutzt werden. Durch eine sukzessive Abrundung der industriespezifischen Schlüsselprozesse im Standard sowie eine stärkere Konfigurierbarkeit der ERP-Lösungen lässt sich die Release-Fähigkeit auf dem Weg in die Cloud signifikant vereinfachen. Somit werden System-Upgrades, wie wir sie heute noch kennen, schließlich der Vergangenheit angehören.

Entscheidend ist der Modifikationsgrad

Vor der Einführung von ERP aus der Cloud ist es wichtig zu prüfen, ob und wie sich der Grad an Modifikationen innerhalb der IT- und Prozesslandschaft reduzieren lässt. Zudem sollte gegebenenfalls geprüft werden, welche Schnittstellen nicht zwingend erforderlich sind. Häufig lassen sich einfache Anforderungen über einen Standard abwickeln. Ein weiterer Ansatz ist der Weg über Best-Practice-Prozesse, die im Produkt bereitgestellt und gemäß dem Branchenstandard implementiert werden. Letztendlich müssen langjährige und tradierte Prozesse ausnahmslos auf den Prüfstand gestellt werden, um die Vorteile einer Cloud-Implementierung maximal nutzen zu können.

Cloud-Transformation: Evolution statt Revolution

Über ein ERP-System wird häufig kolportiert, dass es mehr als ein Jahrzehnt unverändert im Einsatz ist. Zudem stecken ERP-Hersteller viel Zeit und Energie in die Weiterentwicklung der Software. Doch die Innovationen, die damit einhergehen, können nur dann genutzt werden, wenn mittelständische Fertigungsunternehmen mit der Entwicklung mitgehen. Während die Release-Zyklen und die damit verbundenen Innovationsschritte früher beinahe biblische Dimensionen hatten, hat sich mit der Cloud vieles verbessert. Traditionelle Kernsysteme können so sukzessive um neue, voll integrierte Cloud-Services erweitert werden. Das Wichtigste ist jedoch: es ist eine Evolution, keine Revolution. Ein harter Bruch wäre kontraproduktiv. Anbieter müssen sich also an die unterschiedlichen Digitalisierungsgeschwindigkeiten ihrer Kunden anpassen.

Zukünftiger Unternehmenserfolg wird eine immer schnellere, iterative Annäherung an den idealen Betriebszustand voraussetzen. Bekannte Lock-in-Effekte, die eine schnelle Reaktionsfähigkeit sowie kurze Innovationszyklen bei maximalem Investitionsschutz behindern, werden auch im Mittelstand an Toleranzgrenzen stoßen. Daher werden sich moderne ERP-Systeme, wie beispielsweise das von proALPHA, in Richtung offener und vollständig Cloud-nativer Microservice-Architekturen entwickeln, die auch hybrid und mit Third-Party-Anwendungen funktionieren. Der klassische ERP-Monolith wird dafür aufgebrochen und in standardisierte und gekapselte Services zerlegt. Dabei orchestrieren Kunden ihre Cloud- und On-Premise-Services nach ihren individuellen Anforderungen. Durch diese „Mix & Match“-Funktionalität lassen sich Prozesse umfänglich optimieren und quasi eine „Plug & Play“-Integration von Best-of-Suite- mit Best-of-Breed-Technologien realisieren.


Alexander Krauter, Product Manager Cloud, proALPHA Gruppe
Alexander Krauter, Product Manager Cloud, proALPHA Gruppe

Autor: Alexander Krauter, Product Manager Cloud, proALPHA Gruppe