Anzeigen IM BA

IT+Elektrotechnik

Elektronenspeicherringe BESSY II und MLS: Neuer Kontrollraum

Als einer von nur wenigen Anbietern weltweit stellt das Helmholtz-Zentrum Berlin (HZB) mit dem Elektronenbeschleuniger BESSY II am Standort Berlin-Adlershof eine leistungsfähige Infrastruktur für die Forschung mit Synchrotron-Strahlung bereit. Bis August 2013 wurde die Anlage – ebenso wie der Speicherring MLS – von einem historisch gewachsenen Kontrollraum aus betrieben, der relativ laut, unübersichtlich und schlecht klimatisiert war. Um den Operatoren zukünftig optimale Arbeitsbedingungen zu bieten und die Grundlage für eine noch höhere Verfügbarkeit der Beschleuniger zu schaffen, entschieden sich die Verantwortlichen für einen umfassenden Umbau. Sie beauftragten die Experten der Jungmann Systemtechnik GmbH & Co. KG (JST), eine leise, klar strukturierte sowie repräsentative Leitwarte mit flexiblen und ergonomischen Arbeitsplätzen umzusetzen. Auf den insgesamt 18 Arbeitsplatzmonitoren sowie einer proaktiven Großbildwand mit acht LC-Displays können nun mittels einer speziellen MultiConsoling-Technik nicht nur die verschiedenen Überwachungs- und Betriebssysteme flexibel aufgerufen und bedient, sondern auch vielfältige Messgeräte angeschlossen sowie ausgelesen werden. Der neue Kontrollraum führte seit 2013 unter anderem zu einer Erhöhung der Betriebsqualität, zur Festlegung optimierter Prozeduren sowie zur Einführung umfangreicher Betriebsstatistiken.

In der Elektronenspeicherringanlage BESSY II werden Elektronen erzeugt, vom Vorbeschleuniger „Synchrotron“ auf 1,7 Mrd. eV – also nahezu auf Lichtgeschwindigkeit – beschleunigt und anschließend in den Speicherring eingespeist. Dort kreisen sie mehrere Stunden und erzeugen durch Ablenkung beziehungsweise Bahnänderung Synchrotronstrahlung, die Wissenschaftlern an circa 40 sogenannten Beamlines zu Forschungszwecken zur Verfügung gestellt wird. Die Qualität der Synchrotronstrahlung und der hochzuverlässige Betrieb der Anlagen BESSY II und MLS werden durch eine Leitwarte gewährleistet, in der sich die notwendigen Betriebsmodi einstellen sowie Betriebsparameter überwachen und regeln lassen.

Bis zum August 2013 befand sich dieser Leitstand jedoch in Räumlichkeiten, die durch die Nachteile einer historisch gewachsenen Kontrollrauminfrastruktur gekennzeichnet waren: „Durch die Geräusche verschiedener Mess- und Diagnosegeräte sowie Rechner war der Kontrollraum laut. Zudem war er schlecht klimatisiert, wozu auch die Wärmeentwicklung durch den Betrieb der Geräte und PCs beitrug“, so Ingo Müller, Operations Manager beim HZB. Durch die ungünstige Beleuchtung mit 50 Hz-Leuchtstoffröhren konnte es zudem zu Interferenzen mit den Bildschirmen kommen. Da der Raum außerdem aufgrund vielfältiger nachträglich installierter Kabel und Geräte unübersichtlich war und keine ergonomische Ausstattung besaß, wurde eine längere Anwesenheit dort schnell zu einer Belastung für die Operatoren. „Der Operatordienst ist im HZB so organisiert, dass die etwa 45 Mitglieder der technischen Fachgruppen diese Aufgabe im Rahmen eines Schichtdiensts zusätzlich zu ihrer Hauptbeschäftigung übernehmen“, erklärt Müller. „Die beiden Kollegen pro Schicht – einer ist für BESSY II zuständig, einer für die MLS – haben keine Präsenzpflicht in der Leitwarte. Stattdessen führen sie ein schnurloses Telefon mit sich, das Abweichungen und Alarme sofort anzeigt.“ Geht eine entsprechende Meldung ein, begeben sie sich in den Kontrollraum und leiten Maßnahmen ein. „Diese Arbeit direkt in der Leitwarte war vielfach unbeliebt und ein längerer Aufenthalt wurde möglichst vermieden“, so Müller weiter.

Steigende Ansprüche an Verfügbarkeit und Betriebsmodi

Das HZB entschied sich daher, die vorhandenen Räumlichkeiten drastisch umzugestalten. Durch einen neuen, klar strukturierten und übersichtlichen Kontrollraum sollten die Arbeitsbedingungen der Leitwartenfahrer und damit auch die Qualität beim Betrieb der Beschleunigeranlagen verbessert werden. Ziel des HZB war es dabei insbesondere, den steigenden Anforderungen an komplexere Betriebsmodi und eine immer höhere Anlagenverfügbarkeit Rechnung zu tragen. „Beide Punkte sind für uns als Betreiber von Beschleunigern sehr wichtig“, erklärt Müller. „Für die Forscher, die zu uns kommen, ist es essentiell, eine möglichst zuverlässige Anlage zu haben, um den von ihnen gebuchten Zeitraum optimal nutzen zu können. Sie werden daher möglichst einen Beschleuniger mit einer besonders hohen Verfügbarkeit für ihre Untersuchungen auswählen. Entsprechend sind hohe Verfügbarkeitswerte unser Kapital; wir – wie alle anderen Betreiber auch – geben diese Daten bekannt und vergleichen uns darüber.“ Gleichzeitig steigen auch die Ansprüche an mögliche Betriebsmodi, das heißt an die speziellen Füllmuster, in denen die Elektronen im Speicherring kreisen. Auch diese möglichen Fillpatterns wirken sich auf die Attraktivität einer Beschleunigeranlage aus, da sie beeinflussen, welche Untersuchungen die Wissenschaftler vornehmen können.

Nach einer eingehenden Recherche sowie einem Besuch des JST-Kontrollraum-Simulators in Buxtehude wurde Jungmann Systemtechnik mit der Gestaltung des neuen Kontrollraums betraut. „Überzeugt hat uns besonders der Besuch des Kontrollraum-Simulators, wo uns das JST-System vorgeführt wurde und wir selbst sehen konnten, dass eine Integration vorhandener Messgeräte wie Oszilloskopen oder Spektrum-Analyzer kein Problem ist“, so Müller, der am HZB für das Projekt verantwortlich zeichnete. „Auch der Verzicht auf den Einsatz fremder Software auf unseren Rechnersystemen war für uns ein wichtiges Argument für diese Lösung.“ Im Anschluss an die Beauftragung wurde gemeinsam ein individuelles Konzept für die BESSY II- und MLS-Leitwarte erarbeitet. „Dabei haben wir auf ersten Planungen aufgebaut, die Ingo Müller und sein Team bereits vorgenommen hatten, und unser langjähriges Know-how im Leitwartenbau – zum Beispiel hinsichtlich Grundriss, technischer Architektur und Arbeitsergonomie – eingebracht“, erläutert Timo Bredehöft, Consultant bei JST, der das HZB betreut.

Klar strukturierte Leitwarte mit flexiblen Arbeitsplätzen

Der komplette Umbau des Kontrollraums erfolgte von 5. August bis zum 21. September 2013 – also innerhalb eines engen Zeitfensters von sechs Wochen, wovon nur zwei für JST vorgesehen waren. Am 23. September 2013 ging die Leitwarte planmäßig wieder in Betrieb; damit wurde auch der umbaubedingte Anlagen-Shutdown von BESSY II und MLS beendet. Die umgestalteten Räumlichkeiten umfassen nun sieben Arbeitsplätze, die mit je zwei oder drei Monitoren und jeweils einer Maus-Tastatur-Einheit ausgestattet sind. Zudem sorgt ergonomische Möblierung wie das höhenverstellbare Kontrollraumpult Stratos X11 für komfortables Arbeiten. Ebenfalls befindet sich eine proaktive Display Wall mit acht Bildschirmen im Raum. Dagegen wurden sämtliche Rechner sowie Mess- und Diagnosegeräte in einen benachbarten, separaten Technikraum beziehungsweise an Messstellen im Feld ausgelagert. Das reduziert sowohl die Wärmeentwicklung im Kontrollraum, als auch die Geräuschkulisse. „Zu letzterem tragen neben der schallabsorbierenden Verkleidung der Großbildwand auch die abgehängte Decke und der doppelte Boden bei, zu denen JST uns geraten hat“, so Müller.

Für das HZB war auch die Skalierbarkeit des Systems von Bedeutung: Es sollte problemlos erweiterbar und Komponenten selbst noch nach Jahren ersetzbar sein. „Beides ist bei unserer Lösung gegeben. Ersteres wird sichergestellt, indem wir die zentrale Komponente unseres Systems, das sogenannte Multicenter, so auslegen, dass Kapazitäten für zukünftige Quellen frei bleiben“, erklärt Bredehöft. „Wir beraten, wie viele freie Ports zum Beispiel für die nächsten fünf Jahre benötigt werden könnten.“ Unterschiedlichste Systeme von verschiedenen Herstellern lassen sich außerdem per Plug & Play anschließen und stehen sofort für die Bedienung bereit. Ebenso leicht kann ein Austausch von Komponenten vorgenommen werden. So ließ sich mit dieser Lösung insgesamt der Bedienkomfort am Arbeitsplatz deutlich erhöhen.

Der neue Kontrollraum ist klar strukturiert und bietet mit der proaktiven Großbildwand einen schnellen Überblick über die aktuelle Betriebssituation. Für eine intuitive, benutzerfreundliche Bedienung und ein effizientes Arbeiten in der Leitwarte sorgt dabei ein von JST eigens entwickeltes Softwaresystem zur Steuerung von Arbeitsplätzen und Großbildsystemen, das es unter anderem ermöglicht, von jedem Arbeitsplatz aus auf alle Informationen zuzugreifen: „MultiConsoling korreliert Monitore, das heißt, der Anlagenfahrer kann seine Displays frei belegen. Er holt sich immer die Anzeige auf einen der eigenen Bildschirme, die er gerade braucht“, erklärt Bredehöft. Die Bilddarstellung und Tastatur-/Maus-Bedienung erfolgen dabei in Echtzeit.

Zugriff auf Mess- und Diagnosegeräte durch MultiConsoling

Für eine komfortable und intuitive Bedienung der verschiedenen Systeme sorgt auch die sogenannte myGUI-Bedienoberfläche. „In dieser interaktiven 3D-Oberfläche für das MultiConsoling werden alle Konsolen der Arbeitsplätze sowie die Großbildwand als grafisches Modell der Leitwarte dargestellt“, so Bredehöft. Alle benötigten Quellen sind abgebildet und können über ihre Icons an den Arbeitsplatz gezogen und bedient werden. Die Operatoren des HZB nutzen dieses Feature beispielsweise, um auf die angebundenen Mess- und Diagnosegeräte zuzugreifen, deren Daten abzulesen und sie zu konfigurieren. „Ein Messgerät-Fenster kann außerdem vom Arbeitsplatz auf die Display Wall gezogen werden“, erklärt Müller. „Gibt es einen komplexen Sachverhalt zu diskutieren, kann das dann ganz bequem mit mehreren Personen vor der Großbildwand geschehen.“ Umgekehrt lassen sich auch Messprogramme, deren Fenster sich normalerweise an der Display Wall befinden, für eine Einstellung bei Bedarf an einem der Arbeitsplätze aufschalten.

Zusätzlich können in der myGUI auch sogenannte myActions angelegt werden. „Dabei handelt es sich um vordefinierte Szenarien, die anschließend automatisch, einfach per Mausklick ausgelöst werden können“, erläutert Bredehöft. So hat das HZB beispielsweise die myAction „Präsentationsmodus“ angelegt, bei der auf Knopfdruck über die Hotkey-Leiste am Leitwartenpult die Großbildwand – mit Ausnahme von ein paar betriebswichtigen Diagrammen am Rand – komplett leergeschaltet werden kann. Weitere myActions im Beschleuniger-Kontrollraum sind ein automatischer Display-Wall-Umschaltmodus zwischen Tag und Nacht sowie das Anwählen des ins MultiConsoling eingebundenen Redundanzsystems für die Ansteuerung der Großbildwand.

Optimierungen durch den neuen Kontrollraum

„Der neue Kontrollraum von JST wird von uns seit mittlerweile sechs Jahren genutzt und ist zu einem wichtigen Bestandteil des Beschleunigerbetriebs geworden“, so Müller. „Er bietet die Grundlage für professionelle Arbeit und zuverlässigen Betrieb. Zudem dient er als ein Ort für die Maschinenweiterentwicklung, für Krisengespräche, Trainings und die Repräsentation. So kommt unsere Geschäftsführung zum Beispiel häufig mit hochrangigen Gästen in den Kontrollraum, um das Unternehmen in dieser Umgebung zu präsentieren.“ Nach der Umgestaltung durch JST profitiert das HZB unter anderem von einer besseren und schnelleren Übersicht über die aktuelle Betriebssituation mittels Großbildwand und konnte die Verfügbarkeit der Anlagen steigern.

Auch die Betriebsdisziplin und die Identifikation der Operatoren mit ihrem Dienst haben zugenommen: „Der angenehme, optimal designte und möblierte Raum hat bei den Kollegen eine höhere Motivation und Wertschätzung der Arbeit ausgelöst und ihnen in ihrer Aufgabe mehr Selbstwertgefühl gegeben“, bestätigt Müller. „Dies war für uns der Beginn eines Kulturwandels, der dazu geführt hat, dass unter anderem professionelle Tools und Betriebsstatistiken implementiert wurden.“ So führen die Operatoren beispielsweise ein elektronisches Logbuch und Betriebsdaten werden so aufbereitet, dass die Verfügbarkeit der Anlage über das ganze Jahr hinweg exakt in einem Diagramm abgelesen werden kann. Bei Schichtwechsel hat sich zudem ein Übergabeprotokoll eingebürgert, das nun auch länger besprochen wird. Die Aufenthaltszeiten im Kontrollraum haben sich somit deutlich erhöht.

Eine 360°-Aufnahme der Leitwarte mit Erklärung der installierten Komponenten ist hier zu finden:
https://www.jungmann.de/360-touren/jst-helmholtz-zentrum-berlin.html