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Shades of Grey – Betongestaltung am Bahnhof Stuttgart 21

Die neue unterirdische Gleishalle des Stuttgarter Hauptbahnhofs ist ein Meisterwerk der Ingenieursbaukunst. Entworfen von ingenhoven associates und Frei Otto, nähert sich das frei geschwungene Schalendach der Fertigstellung: Momentan werden die Betonflächen gewissenhaft nachbearbeitet, um die Eleganz der fließenden Formen zu betonen.

Der künftige Hauptbahnhof von Stuttgart bildet das Herzstück des Großprojekts Stuttgart 21. Ein tiefliegender, Durchgangsbahnhof mit acht Gleisen wird den bisherigen 16-gleisigen Kopfbahnhof ersetzen. Dadurch können großflächig oberirdische Bahnanlagen aufgegeben werden, um Platz für einen kompletten neuen Stadtteil zu schaffen.

Zentrales Element des Bahnhofsentwurfs ist das begehbare Dach der unterirdischen Gleishalle, das zur Hälfte als städtischer Platz und zur anderen Hälfte als begrünter Teil des Stuttgarter Schlossgartens dient. Getragen wird das Schalendach von 28 Kelchstützen aus weiß eingefärbtem Sichtbeton. Ihre frei fließenden, organischen Formen verleihen dem unterirdischen Raum eine ganz eigene Atmosphäre, wie es sie bei keinem anderen Bahnhof gibt. Die Kelchstützen öffnen sich nach oben zu so genannten Lichtaugen, die Helligkeit in die Halle bringen.

Zentrales Element des Bahnhofsentwurfs ist das begehbare Dach der unterirdischen Gleishalle. Die Lichtaugen bringen Tageslicht ins Innere. Bild: Sebastian Hopp
Zentrales Element des Bahnhofsentwurfs ist das begehbare Dach der unterirdischen Gleishalle. Die Lichtaugen bringen Tageslicht ins Innere. Bild: Sebastian Hopp

Eine Schalenstruktur in dieser Form wurde noch nie gebaut. Sie verbindet auf beeindruckende Weise Ingenieurskunst und Ästhetik. Das 450 Meter lange und 80 Meter breite komplexe Gebilde besteht aus frei gekrümmten Flächen, die dem exakten Verlauf der statischen Kräfte folgen. Dabei ist die Konstruktion sehr materialsparend: In der Mitte zwischen den Kelchstützen kommt die Betonschale mit einer Dicke von nur 40 Zentimetern aus – bei einer Spannweite von rund 35 Metern.

60.000 m2 Sichtbetonfläche und fast 100 km Fugen wurden aufwendig bearbeitet und retuschiert. Besondere Herausforderungen stellten die 28 Kelchstützen, die das Schalendach tragen. Bild: Sebastian Hopp
60.000 m2 Sichtbetonfläche und fast 100 km Fugen wurden aufwendig bearbeitet und retuschiert. Besondere Herausforderungen stellten die 28 Kelchstützen, die das Schalendach tragen. Bild: Sebastian Hopp

Hohe Ansprüche an den Sichtbeton

Wie bei Beton üblich, zeigten die Flächen nach dem Ausschalen noch nicht jene Perfektion, die später den Raumeindruck prägen soll. An manchen Stellen waren die Schaltafeln leicht gegeneinander verrutscht, so dass die Betonflächen Vor- und Rücksprünge von einigen Millimetern aufwiesen. Da die Kelchstützen immer von oben in Streiflicht getaucht werden, warfen diese Unebenheiten Schatten und fielen besonders ins Auge. Auch die unterschiedlichen Oberflächenqualitäten des Betons genügten den Ansprüchen der Architekten keineswegs: Teils war er matt, teils leicht glänzend, teils zeigte er unterschiedliche Verfärbungen. Denn durch diverse Faktoren während der Herstellung wie Außentemperatur, Verbleibdauer in der Schalung, das verwendete Schalöl und die unterschiedlich starke Verdichtung war er mal dunkler, mal heller.

Die riesigen, bis zu 30 m hohen Flächen wurden mittels Arbeitsbühnen und Abseiltechniken bearbeitet. Bild: Sebastian Hopp
Die riesigen, bis zu 30 m hohen Flächen wurden mittels Arbeitsbühnen und Abseiltechniken bearbeitet. Bild: Sebastian Hopp

Außerdem zeigte er Spuren des Bauprozesses. So zeichneten sich Abdrücke von temporären Abstützungen auf der Deckenoberfläche ab. Technisch nicht zu vermeiden, aber gestalterisch unerwünscht waren die Ankerlöcher und einige der Fugen, die den eleganten Schwung der Kelchstützen optisch störten. Daher war klar, dass die Oberflächen nachgebessert werden mussten. An einer Musterstütze testete man die Betonretusche. Nach etwa zehn Überarbeitungsversuchen war schließlich das gewünschte Erscheinungsbild erreicht.

Die Herausforderung: Nach dem Ausschalen weist der Beton eine inhomogene Oberfläche mit Fugen, Löchern und Unebenheiten auf. Bild: Sebastian Hopp
Die Herausforderung: Nach dem Ausschalen weist der Beton eine inhomogene Oberfläche mit Fugen, Löchern und Unebenheiten auf. Bild: Sebastian Hopp

Anspachteln, ausgleichen, anpassen

Für die anschließende Gestaltung der Betonflächen wurde das renommierte Unternehmen beconart beauftragt, auf dessen Vorschlag die mineralische Produktpalette von KEIM zum Einsatz kam. Zunächst wurden die Unebenheiten egalisiert. Dafür mussten Vorsprünge abgetragen, Rücksprünge und Lunker aufgefüllt und Ausbrüche an den Kanten ausgeglichen werden. Die Ankerlöcher in den Decken wurden geschlossen, indem Verschlusskonen eingeschraubt und verklebt wurden. Danach raute man die jeweilige Stelle auf und glättete sie mit Feinspachtel, um sie an die umgebenden Bereiche anzupassen. Ähnlich gingen die Handwerker bei solchen Fugen vor, die auf Wunsch der Architekten optisch ganz verschwinden sollten.

Meisterwerk der Ingenieurskunst: Die geschwungenen Kelchstützen und die gekrümmten Flächen der Lichtaugen in der Gleishalle. Bild: Sebastian Hopp
Meisterwerk der Ingenieurskunst: Die geschwungenen Kelchstützen und die gekrümmten Flächen der Lichtaugen in der Gleishalle. Bild: Sebastian Hopp

Für die großen Flächen war eine Farbanpassung vorgesehen, die gegensätzliche Anforderungen zu erfüllen hatte: Einerseits sollten die unterschiedlichen Töne der einzelnen Bereiche einander angeglichen werden, andererseits durfte der Beton nicht unter einer deckenden Farbschicht verschwinden, sondern sollte seinen steinernen Charakter behalten. Hier konnte die Concretal-Lasur ihre Stärken ausspielen. Als mineralisches System bewahrt sie die sichtbare, offenporige Struktur des Betons, da sie keinen deckenden Film auf der Oberfläche bildet. Um eine möglichst natürliche Anmutung zu erzielen und den Beton durchscheinen zu lassen, wurde die Lasur mit Base und Fixativ verdünnt, mittels Airless-Gerät und Rolle aufgetragen und anschließend von Hand mit einem Naturschwamm und tupfenden Bewegungen verschlichtet. Dadurch entsteht ein leicht wolkiger Eindruck, der unbehandeltem Beton sehr nahe kommt. Nach zwei Arbeitsgängen passte das beconart-Team die noch durchscheinenden Fehlstellen aufgrund von Antragungen und starken Farbabweichungen mit einer lokalen Retusche an die umgebenden Bereiche an. Ebenso wurde mit den zuvor per Konus geschlossenen Stellen verfahren.

Makelloses Erscheinungsbild: die fertig behandelte Oberfläche einer der Kelchstützen. Bild: Sebastian Hopp
Makelloses Erscheinungsbild: die fertig behandelte Oberfläche einer der Kelchstützen. Bild: Sebastian Hopp

Arbeiten unter harten Bedingungen

Insgesamt wurden auf diese Weise rund 60.000 Quadratmeter Sichtbeton und knapp 100 Kilometer Fugen nachgebessert. „Teilweise war das ein echter Knochenjob“, erläutert beconart-Geschäftsführer Martin Berger: „Unter der Decke mussten wir großflächig über Kopf arbeiten. Dafür waren diverse Arbeitsbühnen nötig, um auf Höhen von bis zu 15 Metern zu gelangen. Im Schnitt waren wir drei Jahre lang mit 12 bis 15 Personen vor Ort, um den Sichtbeton zu veredeln. Während wir an einem Ende der Baustelle schon die ersten ausgeschalten Kelchstützen überarbeitet haben, wurden am anderen Ende immer noch neue Kelchstützen gegossen.“ Durch das parallele Arbeiten liegt zumindest dieses Gewerk gut in der Zeit. Wenn nichts mehr dazwischenkommt, ist man im Herbst 2024, einige Monate früher als geplant, mit den Oberflächen fertig.

Reisende, die nach der Eröffnung den Bahnhof nutzen, werden von der aufwendigen, beinahe restauratorischen Nachbehandlung der Kelchstützen und Decken nichts ahnen. Der Beton wirkt ganz natürlich, als sei er direkt so aus der Schalung gekommen. Die Raumidee der Architekten, die auf die Dynamik und Eleganz der geschwungenen Betonformen setzt, kann ihre Wirkung dann ungestört entfalten.

Projekt: Stuttgart 21, www.bahnprojekt-stuttgart-ulm.de
Architektur: ingenhoven associates, www.ingenhovenarchitects.com
Betonveredelung: beconart, www.sicht-beton.com

KEIM-Produkte, www.keim.com
KEIM Concretal-Base, KEIM Concretal-Fixativ, KEIM Concretal-Lasur

Bilder: Sebastian Hopp, Architekturfotograf